Auf einer hübschen Blüte saß ein wunderschöner Schmetterling. Er war soeben frisch geschlüpft. Noch etwas erschöpft, aber glücklich, dass er es geschafft hatte, sah er sich um. „Wo bin ich hier? Und WER bin ich überhaupt?“ Dann verstand er: „Ich bin ein Schmetterling, und sitze hier mitten auf einer Blüte, die mich nähren wird. Wie schön! Es war jetzt alles so anstrengend, aber hier muss ich ja einfach nur ab und zu meinen Rüssel ausstrecken und den Nektar, den es hier gibt, aufsaugen. Diese Blüte hier sieht ja eigentlich ganz gut und komfortabel aus!“.

Und so richtete er sich auf „seiner“ Blüte ein. Er teilte sich den Nektar gut ein, damit er ja nie zur Neige gehe, trank immer nur soviel, dass es ihm gerade so reichte. Und es fühlte sich alles so einfach, bequem, sicher und geborgen an…Und so ging die Zeit ins Land.

Doch eines Tages bemerkte der Schmetterling, dass die Blüte nicht mehr soviel Nektar gab, und irgendwie schmeckte er auch nicht mehr so süß. Plötzlich kam ihm ein Gedanke: „Wenn ich einfach hier bleibe, werde ich wohl langsam schwächer werden, und dann irgendwann sterben, hier auf meiner Blüte…“ Nachdenklich ließ er seinen Blick in die Ferne schweifen. Leider sah er nur ganz verschwommen und schemenhaft, dass es um ihn herum irgendwie bunt und lebendig war, aber er konnte nichts klar erkennen. Seine Augen reichten nicht so weit. Eine leise, fast unhörbare innere Stimme flüsterte ihm zu: „Was, wenn Du Deine Blüte verlässt und einfach losfliegst, um zu sehen, was dort draußen alles ist? Vielleicht wartet da draußen eine Herrlichkeit und Schönheit auf Dich, die Du nie sehen wirst, wenn Du hier bleibst! Du wirst sehen, das ist es wert, einfach davon zu fliegen“ Doch sofort meldete sich eine zweite, laute und viel stärkere Stimme in ihm: „Nein, das ist gefährlich! Auf dem Weg zu einer neuen Blüte könnte Dich ein Vogel fressen! Oder vielleicht ergreift Dich ein ungünstiger Wind, für den Du nicht stark genug bist, und treibt Dich an einen Ort, wo es überhaupt keine Blüten gibt. Oder es kommt ein schlimmes Gewitter mit starkem Regen, dann werden Deine Flügel nass und Du wirst nie wieder fliegen können. Bleib lieber hier, hier bist Du doch sicher!“

Das leuchtete dem Schmetterling ein und er gab der lauten Stimme nach. Er blieb, und fortan bemühte er sich, noch mehr am Nektar zu sparen und schränkte sich immer weiter ein. Mit aller Kraft versuchte er, das Beste aus seiner Situation zu machen. Jeden Tag lauschte er dem Kampf seiner inneren beiden Stimmen, und er wurde dabei immer nachdenklicher. Er spürte, wie ihn seine Kräfte verließen. Es kostete ihn viel Kraft, die Stimme niederzukämpfen, die nicht müde wurde ihm zuzuflüstern: “Du wirst sehen, das ist es wert!“, und stattdessen immer mehr mit seinem Nektar zu haushalten, darüber zu sinnieren, wie lange er wohl überhaupt noch reichen würde, und darüber hinwegzusehen, dass ihm dieser Nektar überhaupt nicht mehr schmeckte. Seine Welt war grau geworden. Und so fand er sich langsam damit ab, dass dies wohl so sein Schicksal war.

Eines Tages, als der Schmetterling am äußersten Rand eines Blütenblattes seiner Blüte saß und wieder einmal traurig seinen Blick in die Ferne schweifen ließ, streichelte plötzlich ein sanfter, warmer Sommerwind über seine Blüte hinweg. Dieser Wind roch süß, und lebendig, nach tausend verschiedenen Blüten. „Du wirst sehen, das ist es wert!“ Säuselte der Wind. Völlig betört von diesem Duft durchfuhr den Schmetterling ein Schauer, und plötzlich, mit einem Schlag, wurde sein Blick vollkommen klar. Plötzlich konnte er sehen, was dieses bunte, verschwommene war, das ihm die ganze Zeit über Rätsel aufgegeben hatte: “Das ist ja einfach unglaublich! Meine Blüte steht inmitten einer riesigen, wunderschönen Wiese, und all das Bunte sind lauter andere Blüten!!“

„Du wirst sehen, das ist es wert!“ raunte der Wind.

Und der Schmetterling breitet seine Flügel aus und fliegt.

© Melanie Schmaler

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